Rückblick
Ein lehrreiches Jahr
Nach sieben reichen Jahren, so verkündete es Josef dem Pharao, werden „sieben Jahre des Hungers kommen, sodass man vergessen wird alle Fülle in Ägyptenland.“ So steht es geschrieben im Alten Testament. Man hätte es also wissen können. Die Eurozone ist im Jahr 2020 in eine Rezession geraten, zum ersten Mal seit sieben Jahren, nach der Eurokrise des Jahres 2013.
Die wirtschaftliche Krise des Jahres 2020 verlief anders als andere Krisen, die normalerweise von der Gewöhnung an gute Zeiten verursacht werden, von Leichtsinn, wenn Unternehmen zu optimistisch investieren, insbesondere mit geliehenem Geld. Wenn zu viel Kredit in Umlauf ist und eine gute Geschichte von leicht zu verdienendem Geld erzählt wird, baut sich manchmal eine Blase auf, die beim Platzen oft genug erhebliche Schäden im Bankensystem verursacht. Und da die Banken essenziell sind für das Funktionieren der realen Wirtschaft, treten Schäden an den unterschiedlichsten Stellen auf. Im Jahr 2020 aber ging die Krise weder vom Finanzsystem noch von der Wirtschaft überhaupt aus, sondern von einer Pandemie, die kaum jemand auf der Rechnung hatte. Es handelte sich um einen echten exogenen Schock.
Hier ist nicht der Ort, die Geschichte von der weltweiten Verbreitung des Coronavirus erneut zu erzählen. Es genügt der Hinweis, dass die Wirtschaftsleistung in der Eurozone im ersten Quartal des Jahres um gut 3% geschrumpft ist und im zweiten Quartal um knapp 15%. Ein solcher Einbruch sucht seinesgleichen.
Ähnlich verhält es sich mit der Reaktion der Märkte. Der Eurostoxx 50 Index fiel in dem knappen Monat zwischen dem 19. Februar und dem 18. März um 38,3%. Die Zinsen für 10-jährige deutsche Staatsanleihen fielen auf -0,85%. Und der Ölpreis-Future fiel um unvorstellbare 162%, von 61 Dollar pro Fass zu Jahresanfang auf sagenhafte -38 Dollar am 20. April.
Das ist die erste Lehre aus dem Jahr 2020: Es gibt Preisbewegungen, die man eine Woche oder einen Monat zuvor noch für ausgeschlossen hielt und die plötzlich ganz logisch sind. Daher ist man immer, immer, immer gut beraten, eine auskömmliche Cash-Quote im Portfolio zu haben.
Die Pandemie hat in China ihren Ausgang genommen und der Rest der Welt war für kurze Zeit der Überzeugung, es handle sich um ein chinesisches Problem, welches das Reich der Mitte deutlich zurückwerfen würde. Es zeigte sich aber bald, dass China konsequent bis zur Rücksichtslosigkeit mit der Bedrohung umging und sie dadurch sehr effektiv in den Griff bekam. Europa und Amerika, mit ihrer weniger disziplinierten und kontrollierten Bevölkerung, waren weder willens noch in der Lage, so konsequent durchzugreifen. Das für den westlichen Beobachter zu Anfang des Jahres noch unwahrscheinliche Ergebnis der Pandemie stellte sich spätestens im Herbst als bittere Realität heraus: Die autokratischen oder kollektivistischen Regierungen in Asien konnten die Verbreitung des Virus erheblich besser eindämmen und hatten daher auch erheblich geringere wirtschaftliche Einbußen.
Die westliche Welt sah sich gezwungen, die wirtschaftliche und menschliche Katastrophe durch erhebliche Staatsschulden abzuwenden. Ganze Branchen wurden durch Kredite und Subventionen gestützt, Kurzarbeiter- und Arbeitslosengeld wurde schnell und großzügig ausgezahlt. Bemerkenswert war dabei, wie eng koordiniert Zentralbanken und Finanzministerien dabei vorgingen – in der Vergangenheit war dies nicht immer der Fall. Das Krisenmanagement war effektiv und weitgehend erfolgreich, führte aber zu einem Schuldenstand, mit dem in Zukunft irgendwie umgegangen werden muss. Einen großen Teil der Neuverschuldung haben die Zentralbanken auf ihre Bücher genommen und dabei die Geldmenge erheblich ausgeweitet. Vor 100 Jahren, während der großen Inflation in Deutschland, sagte man „schwebende Schuld“ zu einer solchen unaufgeräumten, weil nicht im Markt unterzubringenden Verschuldung. Die Geschichte wird sich nicht wiederholen (das wäre zu einfach), aber eine Warnung kann sie allemal sein.
Die Intervention der Regierungen und Zentralbanken hat dazu geführt, dass die Auswirkungen der Krise sehr viel milder sein werden als ohne Intervention und zudem über viele Jahre gestreckt. Die Märkte haben das ab Ende März sehr schnell realisiert und begannen zu drehen, als der Ausblick am düstersten war. Schon Hegel hat festgestellt, dass die Nacht am dunkelsten ist kurz vor dem Morgengrauen.
Daraus ergibt sich die zweite Lehre des Jahres 2020: Panikverkäufe sind selten eine gute Idee, insbesondere wenn es ganz übel aussieht. Denn merke: If you panic, panic before everybody else does.
Obwohl die Krise alle Branchen betrifft, sind ihre Auswirkungen sehr unterschiedlich. Luftfahrt, Tourismus, Gastronomie und Hotellerie sind besonders betroffen, während beinahe alle digitalen Geschäftsmodelle – wie etwa Telemedizin, E-Commerce, Computerspiele oder Streaming-Dienste – zu den Gewinnern zählen.
Ebenso unterschiedlich war die regionale Auswirkung von Corona. Die meisten asiatischen Länder, insbesondere China, werden die großen Gewinner der Krise sein. Ihre Märkte sind intakt und es ist ihnen gelungen, neue Kunden zu gewinnen, als die westlichen Firmen ausgeschaltet waren. Die asiatischen Staaten haben darüber hinaus ihre finanzielle Handlungsfähigkeit behalten. Vielleicht stehen wir am Anfang einer asiatischen Dekade.
Das also ist das entscheidende Charakteristikum des Jahres 2020: die erhebliche Beschleunigung einer Reihe von Trends, die bereits angelegt waren, nun aber drei oder vielleicht auch zehn Jahre in die Zukunft katapultiert wurden. Video-Meetings waren zu Anfang des Jahres noch etwas für Start-Ups, für junge Leute in kaputten Hosen. Am Ende des Jahres empfängt die englische Königin ausländische Diplomaten über Zoom. Die Digitalisierung betrifft heute fast alle Lebensbereiche. Jede Firma muss ihr Geschäftsmodell überdenken. Wer es nicht tut, wird vermutlich im Lauf des nächsten Jahres seine Pforten schließen müssen.
Daraus lässt sich die dritte Lehre des Jahres 2020 ziehen: Egal, wie finster es aussieht, irgendwer gewinnt immer. Es gibt in jeder Krise Unternehmen, die gestärkt aus ihr hervorgehen. Es lohnt sich, nach ihnen Ausschau zu halten, wenn die Masse der Investoren verzweifelt ist.
Jedes Jahr küren wir Gewinner und Verlierer des Jahres. Starke Kandidaten als Gewinner in diesem Jahr waren ökologische Investments und Bitcoin. Gold konnte als Krisenwährung und Inflationsschutz um 25% zulegen. Bitcoin hingegen legte um 300% zu und scheint damit eine bessere Absicherung zu sein.
Gold konnte als Krisenwährung und Inflationsschutz um 25% zulegen. Bitcoin hingegen legte um 300% zu und scheint damit eine bessere Absicherung zu sein.
Bitcoin beginnt sein Image als Schmuddelkind der Finanzszene abzulegen. Es mag nichts Substanzielles dahinterstecken, aber das ist bei allen Währungen so. Auch von Gold kann man nicht abbeißen und es hat seinen Wert nur so lange, wie die Menschen glauben, dass es einen Wert hat. Die Wahrnehmung von Bitcoin wandelt sich und mit ihr die Werthaltigkeit des Finanzinstruments. Aber selbst, wenn Bitcoin sich nicht als Zahlungsmittel durchsetzt und sich neben Kupfer, Haifischzähnen und Perlen in die lange Reihe obsoleter Zahlungsmittel einreiht, wäre es doch naiv zu glauben, dass die derzeitige Zahlungsmittelarchitektur, die vor über einem halben Jahrhundert entwickelt wurde, noch lange Bestand hat. Es gibt auf diesem Gebiet viel zu verbessern. Es wird in absehbarer Zeit möglich sein, in großem Umfang Kaufkraft schnell, billig und ohne Mittler zu transferieren, so wie wir heute E-Mails oder Fotos transferieren.
Eine Frage der Wahrnehmung war lange Zeit die Entwicklung der Aktienmärkte. Unser Alltag war plötzlich nicht wiederzuerkennen, kam zum Stillstand. Es gab keine Reisen mehr, die Fabriken blieben geschlossen, es gab massenhaft Kurzarbeit, die Büros wurden zum Homeoffice und die Familien aßen wieder zu Hause – was Delivery Hero zum Aufstieg in den DAX verhalf. Gleichzeitig erholte sich die Börse ab Ende März wieder in atemberaubender Geschwindigkeit. Zunächst wurde offensichtlich, dass bestimmte Geschäftsmodelle deutlich profitieren werden. Darüber hinaus griffen die Zentralbanken erheblich stärker ein als je zuvor. Etwa half die Federal Reserve bei der Finanzierung in Schieflage geratener Unternehmen durch den Kauf von Hochzinsanleihen. Schließlich waren die Regierungen bereit, sich erheblich zu verschulden, um die Zeit bis zur Überwindung der Pandemie wirtschaftlich zu überbrücken. Damit war an den Börsen klar, dass die Wirtschaft nicht zusammenbrechen und die Märkte nicht einfrieren würden. Und nüchtern betrachtet war viel Liquidität im Umlauf und die Aktien vieler Unternehmen sehr billig bewertet.
Als schließlich die EU beschloss, über einen immerhin 750 Mrd. EUR schweren „Recovery Fund“ gemeinsam Schulden aufzunehmen, um die Wirkungen der Pandemie für die am stärksten betroffenen Länder zu unterstützen, musste sich auch der Blick auf die Eurozone wandeln. Die Schulden der lateineuropäischen Länder sind damit ein gutes Stück sicherer geworden. Auch wenn der für dieses Mal aufgelegte Fonds nur zeitlich und in der Höhe begrenzt ist, ist damit doch klar, was alles möglich ist, wenn die nächste Krise kommt.
So sahen die Börsen schnell das Licht am Ende des Tunnels, während die Realwirtschaft tief in der Rezession war. Viele Anleger taten sich schwer mit der Geschwindigkeit, in der sich die Verhältnisse änderten. Sie waren ja nicht nur mit dem Händeringen über die Pandemie beschäftigt, sondern auch mit Trump, Brexit, Wirecard und was noch die Zeitungsspalten füllte, während in der Praxis der Heilungsprozess in den meisten Branchen längst begonnen hatte.
So halten wir als vierte Lehre des Jahres 2020 fest: Die Märkte ändern sich meist schneller, als der Anleger es für möglich hält. Der Mensch gewöhnt sich nur langsam an neue Tatsachen und seine Emotionen reagieren oft träge. Die Kunst des Investierens besteht zu einem großen Teil darin, Daten und Emotionen auseinanderzuhalten (wie es Platon in seinem Dialog Phaidros empfahl) und sich an die Fakten zu halten, nicht bloß an die plausiblen Geschichten. Diese, wie auch die anderen Lehren des Jahres, sind nicht eben neu, aber wir sind alle gut beraten, sie uns gelegentlich wieder vor Augen zu führen.
In Ägypten folgten in biblischer Zeit sieben magere Jahre. Ob das eine realistische Schätzung der benötigten Zeit ist, um den Schuldenstand wieder in ein gutes Verhältnis zur Wirtschaftsleistung zu bringen, erläutern wir im Ausblick.