An der Börse wird viel zu viel über mögliche politische Entwicklungen geredet, die am Ende des Tages doch kaum Auswirkungen auf die wirtschaftlichen Realitäten haben. Normalerweise haben politische Börsen kurze und krumme Beine. Und so scheint es derzeit auch kaum mehr zu interessieren, welche Sau aktuell durch Washington getrieben wird. Die amerikanischen Märkte sind mit einer positiven Tendenz in die zweite Präsidentschaft Trump gestartet, wenn auch nicht ganz so gut wie die europäischen und chinesischen. Mit der Neuausrichtung der internationalen Beziehungen glaubt die Börse gut umgehen zu können.
Die zweite Regierung Trump scheint zu versuchen alle Politik in einer Art und Weise handhaben zu wollen, die von Marx als Versachlichung beschriebenen wird. In seiner eher umfangreichen Schrift „Das Kapital“ prägt er die Formel von der „Personifizierung der Sache und der Versachlichung der Personen“. Damit beschreibt er die Unterwerfung der Arbeiter unter das anonyme, abstrakte Kapital, das in der Arbeitskraft nur einen Produktionsfaktor unter vielen sieht und dem der Mensch als Person herzlich egal ist. Marx kritisiert, dass ökonomische Prozesse oft als Sachzwänge beschrieben werden, ohne dass die Dimension des „Hand-in-Hand- und Auge-in-Auge-Verkehrs“ dabei Berücksichtigung findet. Und so versucht die neue amerikanische Regierung einerseits, die internationalen Beziehungen zu personifizieren (wer ist hier auf Augenhöhe?), und andererseits in der Innen- und Außenpolitik die menschliche Dimension vollständig durch die Logik der Transaktionen zu ersetzen. Es geht nicht mehr darum, wer die Freunde der USA sind, sondern wo sich ein geschäftlicher Vorteil bietet. Das macht die USA zwar nicht sympathischer in Europa, wo man es sich in der transatlantischen Wertegemeinschaft gemütlich gemacht hatte, aber doch nicht weniger berechenbar als in der Vergangenheit. Nur ist die Rechnung in ihrem Inhalt und dem Ton, in dem sie präsentiert wird, spürbar verändert.
Dies zeigte sich in Reinform, als der amerikanische Finanzminister Bessent in Kiew die Rechnung für die bisher geleistete und noch zu erwartende Hilfe präsentierte. 500 Milliarden Dollar, unter Freunden, lautete die ursprüngliche Forderung (die inzwischen aber wohl wieder hinfällig ist). Dies wären mehr als das Doppelte der jährlichen Wirtschaftsleistung des Landes vor dem Krieg. Sollten die Amerikaner tatsächlich an der Ausbeutung ukrainischer Bodenschätze beteiligt werden, so würden sie übrigens nicht darum herumkommen, auch Soldaten zu schicken. Warum? Dem letzten imperialen US-Präsidenten, William McKinley, auf den sich Trump gerne bezieht, erklärte es sein Außenminister John Hay im Zusammenhang mit der Ausbeutung Chinas durch die Europäer und Japaner (an der die Amerikaner auch gerne teilnehmen wollten, ohne selbst Soldaten zu schicken): „The inherent weakness of our position is this: we do not want to rob China ourselves, and our public opinion will not permit us to interfere, with an army, to prevent others from robbing her.“
Mit anderen Worten: Um ein Land auszurauben, muss man sich selbst die Hände schmutzig machen. Heute sind die Russen bereits dabei, die Ukraine zu plündern, und sie haben dafür sehr viele Männer ins Feld geschickt. Ohne eigenes Militär vor Ort werden die USA heute in der Ukraine so wenig vom Kuchen bekommen wie vor 125 Jahren in China. Aber solche Lehren werden im Handumdrehen vergessen. Allerdings bleibt die geopolitische Situation hochgradig volatil. Politische, wirtschaftliche und militärische Entwicklungen können sich innerhalb kürzester Zeit grundlegend ändern und haben dies in der Vergangenheit bereits getan. Neue Allianzen, innenpolitische Verschiebungen in den USA, Europa oder der Ukraine sowie unerwartete Wendungen auf dem (politischen) Schlachtfeld könnten dazu führen, dass sich die strategischen Interessen und Handlungsspielräume aller Beteiligten rapide verschieben. Was heute als unausweichlich erscheint, kann morgen bereits überholt sein.
Anders als um die Außenpolitik steht es um die Innen- und Wirtschaftspolitik. Dort zählen die staatlichen Institutionen, die ihrer Natur nach deutlich stabiler und verbindlicher sind als internationale Einrichtungen. Sie schaffen das Vertrauen, ohne das keine freie Gesellschaft existieren kann. Aristoteles beschreibt übrigens das allgemeine gegenseitige Misstrauen in der Bevölkerung als eine wesentliche Voraussetzung der Tyrannis.
Die Überzeugung, dass nicht nur ein funktionierender Rechtsstaat die Verhältnisse unter Vertragspartnern regelt, sondern auch eine unausgesprochene Bindung an Treu‘ und Glauben, ermöglicht ein in jeder Hinsicht reibungsloseres Miteinander als ein solches, das nicht von Vertrauen gekennzeichnet ist. Wenn wir kein Vertrauen haben, wenn wir also keine berechtigte Hoffnung auf die künftige Erfüllung einer Erwartung haben, dann befinden wir uns in einem Zustand, den der Heilige Thomas von Aquin in jedem Fall als Furcht („timor“) beschreibt.
Vertrauen ist in internationalen Beziehungen immer Mangelware, selbst in einem Staatenbund wie der EU. Wenn aber innerhalb eines demokratischen Staates das Vertrauen verloren geht und die Furcht zum vorherrschenden Gefühl wird, wird damit auch die allgemeine Handlungsfähigkeit erheblich abnehmen. Ohne Vertrauen wird praktisches Handeln nicht mehr auf Hypothesen, sondern nur noch auf Fakten oder Anweisungen basieren können – wie in einem autoritären Staatswesen.
In den USA droht derzeit ein erheblicher Vertrauensverlust in drei Hinsichten, die für die Wirtschaft essenziell sind.
Erstens dürften mittlerweile große Teile der bundesstaatlichen Bürokratie derart verunsichert sein, dass dort kaum noch Entscheidungen gefällt werden. Wer ständig den Jobverlust befürchten muss, wird in der Regel nicht mehr sehr effizient arbeiten. Er wird sich in allem, was er tut, rückversichern und darüber hinaus die Augen nach einem neuen Job offenhalten. Die Regierung dürfte durch die Ankündigung, praktisch alle Funktionen zur Disposition zu stellen, eine lähmende Furcht verbreitet haben.
Zweitens ist klar, dass die geplanten Kürzungen im Staatsapparat wie ein Austeritätsprogramm wirken. Der Staat gibt weniger aus: Für die Gläubiger der USA ist das eine gute Nachricht, für das Wirtschaftswachstum ist es eine schlechte Nachricht. (Ob diese Kürzungen aber ausreichen, um die geplanten Steuersenkungen zu kompensieren, steht auf einem anderen Blatt.)
Drittens bekommt die Wirtschaft in den USA ein erhebliches Problem durch die gestiegene Unsicherheit in der Zoll- und Steuerpolitik. Sicher ist nur: Allen Beteuerungen von Team Trump zum Trotz wirken Zölle wie Steuern – und diese kurbeln die Wirtschaft bekanntlich nicht an. Bei etwa der Hälfte aller Importe der USA handelt es sich um Vorprodukte (wie z.B. Aluminium), die in den USA in den Produktionsprozess einfließen. Indem diese verteuert werden, können auch viele Unternehmen, die in den USA produzieren, ihre Preise immer weniger gut kalkulieren. Vorauseilende Preisaufschläge dürften die Folge sein. Schließlich werden die amerikanischen Exporteure sich auf allerlei Handelshemmnisse im Rest der Welt einstellen müssen. Wie diese aussehen werden, werden sie zu gegebener Zeit erfahren.
Die Unsicherheit in Bürokratie und Wirtschaft schlägt sich bereits auf die Stimmung in der Bevölkerung nieder. Das Konsumentenvertrauen zeigt nach der kurzen Euphorie im Anschluss an die Wahl Donald Trumps wieder deutlich nach unten. Selbst bei den republikanischen Wählern scheint die Euphorie zu erlahmen. Der Immobilienmarkt in den USA bleibt schwach, auch dies ist kein Hinweis auf Zutrauen in die wirtschaftlichen Verhältnisse. Und die Inflationsrate verharrte schon vor der Einführung der Zölle bei 3%.
Um es auf den Punkt zu bringen: Sollte sich die durch die Personifizierung und Versachlichung von Politik ausgelöste Vertrauenskrise festsetzen, wird das Wachstum der US-Wirtschaft unter den Erwartungen bleiben. Eine Halbierung des Wachstums etwa auf nur 1,5% wäre zwar noch immer höher als in Europa, aber zu gering, um die gegenwärtige Bewertung der Aktienmärkte zu untermauern. Die Märkte sind im letzten Jahr teuer geworden und vertragen keine schlechten Nachrichten. Das ohnehin angeschlagene Vertrauen dürfte sich dann, wie von Thomas von Aquin beschrieben, in Furcht verwandeln.
So sind Investoren heute gut beraten, ihre Positionen in US-Aktien zu überdenken. In jedem Fall gilt: Die Personifizierung und Versachlichung der amerikanischen Politik wird nicht für alle gut ausgehen.