12.11.2025

Börsenblatt | Wozu, nochmal, war das 60/40-Portfolio eigentlich gut?

In der griechischen Mythologie personifiziert Lethe das Vergessen – eine Tochter der Eris, der Göttin des Streits und der Zwietracht. Wer streitet, vergisst das große Ganze, der Horizont wird eng und dunkel. Die Geschwister der Lethe, die ebenfalls aus Streit entstehen, sind unter anderen Ponos (Mühsal), Pseudea (Lüge), Dysnomia (Gesetzlosigkeit) und Ate (Verblendung). Es handelt sich um keine nette Familie, mit der man gerne in die Ferien fahren würde.

Das Vergessen hat aber auch seine positiven Seiten, es ist die Grundlage jeder beschwingten und vergnügten Lebensform. So fließt in den antiken Mythen der gleichnamige Strom Lethe in der Unterwelt, aus dem die Seelen trinken, um frei und unbeschwert in ein neues Leben einzutreten. Auch Nietzsche beklagt die Grübelei, die das ständige Nachdenken über die Historie mit sich bringt und ist ein Freund von freien, unbeschwerten Handlungen. So wenig sich ein Auto mit dem Blick in den Rückspiegel steuern lässt, so wenig lässt sich die Zukunft aus der Vergangenheit erraten. Erinnern und Vergessen sind also keine Gegensätze, sondern vielmehr komplementäre Kräfte.

Wer sich diesseits von Mythologie und Philosophie bewegt, muss also eine praktische Balance finden zwischen Kenntnis und Unkenntnis der Geschichte. Das legen wir immer wieder gerne jenen Investoren nahe, die heute etwa das Platzen der aktuellen KI-Blase nach dem Muster der Dotcom-Blase im Jahr 2000 erwarten, die seit 2009 die nächste Finanzkrise kommen sehen, die seit 1923 entsetzliche Angst vor der Inflation haben und die griechischen Staatsfinanzen seit 1821 für ungeordnet halten. Ach, wenn es nur so einfach wäre und die Vergangenheit tatsächlich ein zuverlässiger Führer in die Zukunft wäre. Aber die Umstände ändern sich ebenso wie die Menschen und ihre Erfahrungen, Ideen und Handlungen, und so weiß niemand im Voraus, wie der Hase der Geschichte läuft.

Dies vorausgeschickt, fühlen sich die Veteranen des großen Bärenmarktes der Jahre 2000 bis 2003 – zu denen der Autor dieser Zeilen sich bedauernd zählen muss – heute angesprochen, wenn der Vergleich zwischen der Blase damals und den mitunter rauschhaften Bewegungen heute bemüht wird. Wie war das damals, alter Mann?

 

Der Nachhall der geplatzten Blase

Es war anders, aber es war genauso teuer. Das CAPE genannte, über den Zyklus adjustierte Kurs-Gewinn-Verhältnis amerikanischer Aktien (S&P 500) erreichte im Januar 2000 einen Wert von 44, während es heute bei knapp 40 steht. Beides sind exorbitante Werte. Der MSCI World Index (in EUR) brauchte nach dem folgenden Crash damals 15 Jahre, bis er das Hoch wieder erreichte. Im Leben eines Investors ist das eine bedenklich lange Zeit, in der es nur Wasser und Brot und wenig zufriedene Anleger gibt. Das allein wäre ein guter Grund, alle (amerikanischen) Aktien zu verkaufen und sein Geld auszugeben oder auf die hohe Kante zu legen, wären da nicht die markanten Unterschiede zur heutigen Situation und die Lehren aus dem damaligen Desaster.

Die Unterschiede liegen darin, dass der Markt im aktuellen Fall nicht von Aktien ohne Umsatz getrieben wird. Damals wurde der Markt mit Börsengängen von Unternehmen wie Pets.com geflutet, die weder Gewinne noch Umsätze vorzuweisen hatten, sondern nur Klicks auf schnell zusammengeschusterte Webseiten (Pets.com wurde im Februar 1999 gegründet, ging genau ein Jahr später an die Börse und war im November 2000 insolvent). Heute wird der Markt von den Investitionen in KI getrieben: Amazon, Alphabet, Microsoft und Meta planen für das laufende Jahr Investitionsausgaben von zusammen etwa 400 Milliarden Dollar, die sie zumeist für Datenzentren ausgeben. Sie verdienen aber genug Geld, um sich die Investitionen leisten zu können und das Schicksal von Pets.com zu vermeiden. Bei allen außer Meta rechnen die Analysten für das nächste Jahr, allen Ausgaben zum Trotz, mit einem steigenden freien Cashflow (die Summe, die am Ende für die Aktionäre übrigbleibt). Und die Nachfrage nach den neuen Technologien scheint gesichert. In vielen Branchen müssen Unternehmen sparen – auch wegen der Zoll- und Einwanderungspolitik der Trump-Regierung. Wenn Firmen ihre Arbeitskosten mithilfe von KI nur um 10 % senken könnten, wäre das Einsparpotenzial für die im S&P 500 gelisteten Unternehmen ungefähr so hoch wie die oben genannten Investitionen der Tech-Konzerne.

Gleichwohl sind heute wie damals heroische Annahmen nötig, um die Kurse der Magnificient 7 zu rechtfertigen. KI darf nicht zu einer austauschbaren Ware werden, an der die Hersteller kaum verdienen (wie es bei der Infrastruktur für das Internet der Fall war). Die Gewinne müssen schnell und nachhaltig steigen. Der Staat darf nicht auf die Idee kommen, seine Ausgaben für die alternde Bevölkerung, für Sicherheit und seine sonstigen Haushaltslochverursacher auch nur teilweise durch höhere Unternehmenssteuern zu stopfen. Und trotz Arbeitskräftemangels muss die Lohnentwicklung auch in diesem Sektor moderat bleiben und die Unternehmen müssen weiterhin einen historisch sehr großen Teil vom ökonomischen Kuchen abbekommen.

Eine Lehre, die der Markt damals für junge Fondsmanager bereithielt, war die Unmöglichkeit des Timings. Diese Lehre war schon damals nicht neu, denn für die Börse gilt, was Tocqueville bereits für die Geschichte konstatiert hat: Sie ist eine Galerie, in der viele Kopien und wenige Originale hängen. Bereits 1996 hatte der damalige Präsident der amerikanischen Zentralbank, Alan Greenspan, mit Blick auf die Fundamentaldaten vor „irrational exuberance“ am Aktienmarkt gewarnt. Die folgenden vier Jahre zählten zu den profitabelsten seit Menschengedenken. Ein teurer Markt kann noch sehr lange sehr gut weiterlaufen. Er muss auch nicht dramatisch platzen. Eine Blase kann auch in eine lange Phase stagnierender Kurse münden, in der die Realität zur vorausgeeilten Fantasie an den Börsen langsam aufschließt.

Aber auch wenn man sich nicht an der fundamentalen Bewertung orientiert und das Timing einigermaßen gut hinbekommen und nur ein halbes Jahr vor dem Höchstkurs seine Internet-Aktien verkauft hätte, so hätte man (gemessen am NASDAQ 100 Index) die letzten 96% Kursgewinn verpasst. Das ist nicht wenig. Der größte Teil der Kursgewinne kommt in einem Bullenmarkt ganz zum Schluss (was eine nützliche Information wäre, wenn man nur wüsste, wann Schluss ist), in der sogenannten „Pets.com-Phase“ – die wir aktuell noch nicht erreicht haben. Seither weiß der Börsenblatt-Schreiber jedenfalls, dass Timing, sei es aus fundamentalen oder sonstigen Überlegungen heraus, schwierig ist.

Wie aber erkennt der Investor, wann ein gesunder Bullenmarkt in die Phase einer ungesunden Blase übergeht? Zwei Bedingungen müssen gegeben sein: In den gängigen Bewertungsmodellen müssen unrealistisch hohe Wachstumsannahmen gemacht werden, um die gegenwärtigen Kurse zu rechtfertigen. Und die (Grenz)Käufer im Markt scheren sich kein Jota um diese Bewertungsmodelle. Solange unermüdlich über die KI-Blase geredet wird, ist wahrscheinlich nur die erste Bedingung erfüllt.

 

Warum 60/40?

Zu Anfang des Jahrtausends kam mit dem Platzen der Dotcom-Blase auch wieder das 60/40-Portfolio, in welchem nach diesem Schlüssel in Aktien und Anleihen investiert und jährlich rebalanciert wird, in Mode. Im langen Bullenmarkt war es fast in Vergessenheit geraten, so wie es auch heute häufig als überflüssig charakterisiert wird (https://papers.ssrn.com/sol3/papers.cfm?abstract_id=4590406). Warum, so heißt es damals wie heute, sollte man Geld in Anleihen oder Cash anlegen, wo doch die Rendite der Aktien langfristig ungleich besser ist? Nur wer einen furchtbar kurzen Zeithorizont hat, sollte sich überhaupt mit etwas anderem als Aktien beschäftigen. Man kaufe den MSCI World und lebe sorgenfrei.

Also: Was sprach noch gleich für das ausgewogene Portfolio? Wie konnte man allererst auf die Idee kommen, etwas anderes zu kaufen als Aktien?

Nun bestreitet niemand, dass Aktien langfristig eine höhere Rendite bieten als Anleihen oder Cash (oder Immobilien). Wenn Eigenkapital keine höhere Rendite hätte als Fremdkapital oder Bares, würde kaum jemand das damit verbundene Risiko eingehen. Kein professioneller Investor unterhält ein gemischtes Portfolio (wir nennen es der Bequemlichkeit halber 60/40-Portfolio), weil er sich davon eine langfristig höhere Rendite verspricht. Was für die Diversifikation spricht, ist die Erwartung, dass die risikoadjustierte Rendite höher ist, dass also der Gewinn relativ zum eingegangenen Risiko attraktiver ist. Das Risiko wird besser bezahlt. Wer ein höheres oder niedrigeres Risiko eingehen möchte, als es ein 60/40-Portfolio bietet, muss und sollte das nicht über ein reines Aktien- oder Anleihenportfolio tun. Die begleitende Aufnahme eines Kredits oder das Halten von Cash erfüllen diesen Zweck besser.

Ihren Nutzen stellte die von Harry M. Markowitz aufgestellte Theorie der gemischten Portfolios in den auf die Jahrtausendwende folgenden Jahren unter Beweis. Zur Illustration stellen wir uns einen wohlhabenden Mann vor, der zum Jahresende 1999 in Rente gegangen ist und von der Million, die er in seinem Berufsleben angespart hat, seine Altersbezüge aufbessern oder gänzlich finanzieren möchte. Entnimmt unser Mann 4% seines Anfangsvermögens pro Jahr, also 40.000 Euro, kann doch eigentlich nichts schiefgehen, werfen Aktien doch langfristig zwischen 7% und 8% ab? Die Realität sähe 25 Jahre später - Ende 2024 - so aus: Das 60/40-Portfolio stünde nur etwas vermindert bei EUR 880.000, während ein im MSCI World angelegtes Portfolio im Jahr 2025 aufgebraucht wäre. Die hohe Anfangsbewertung und die sture Entnahme aus dem Portfolio sind eine fatale Kombination für das rein in Aktien angelegte Vermögen. In so einer Situation zeigt sich, warum es Sinn macht, darauf zu achten, für das eingegangene Risiko gut bezahlt zu werden.

Heute ist die Bewertung ähnlich hoch wie 1999. Vielleicht ist dieses Mal alles anders, aber wer will schon die Farm darauf verwetten? Damals jedenfalls haben viele das 60/40 Depot lieben gelernt, das eigentlich schon ausgedient hatte. Und es mag dieses Mal wieder so kommen.

 

Was tun?

Was also empfiehlt sich in dieser Situation, wie gehen wir ins Jahresende? Wir befinden uns unzweifelhaft in einem Bullenmarkt und ebenso unzweifelhaft sind die Bewertungen teilweise sehr hoch.

Mit einer solchen Gemengelage geht man erfahrungsgemäß am besten so um:

  • Es ist unerlässlich, den Wunsch, Geld einzusetzen, stets mit der nötigen Umsicht umzusetzen. Es empfiehlt sich in der aktuellen Situation, die Risiken bei größeren Kursgewinnen schrittweise zu reduzieren und den Sicherheitspuffer im Portfolio auszubauen.
  • Gegen einen Bullenmarkt zu wetten, ist aber, wie jedes Timing, ein gewagtes Spiel. So lange so viel über die KI-Blase geredet wird, wird sie wahrscheinlich nicht platzen.
  • Die KI birgt erhebliche Effizienz- und damit Markt- und Gewinnpotenziale. Es ist aber unklar, wer am Ende wie Geld verdienen wird. Unprofitable Geschäftsmodelle werden vielleicht unprofitabel bleiben.

Seit 16 Jahren leben wir praktisch ununterbrochen in einem Bullenmarkt. Es könnte sein, dass die nächsten Jahre interessanter werden. 

 

 

 

 

 

 
DISCLAIMER Dieser Artikel enthält die gegenwärtigen Meinungen des Autors, aber nicht notwendigerweise die der Eyb & Wallwitz Vermögensmanagement GmbH. Diese Meinungen können sich jederzeit ändern, ohne dass dies mitgeteilt wird. Der Artikel dient der Unterhaltung und Belehrung und ist kein Anlagevorschlag bezüglich irgendeines Wertpapiers, eines Produkts oder einer Strategie. Die Informationen, die für diesen Artikel verarbeitet worden sind, kommen aus Quellen, die der Autor für verlässlich hält, für die er aber nicht garantieren kann. 

Unsere Autoren

Dr. Georg von Wallwitz, CFA
Dr. Georg von Wallwitz, CFA

Geschäftsführender Gesellschafter | Gründer

INVESTMENT NEWS

Aktuelles von Eyb & Wallwitz.

Weitere News.