Herr von Wallwitz, hinter uns liegt ein turbulentes Börsenjahr 2022 – wie würden Sie die Ereignisse zusammenfassen?

In der Tat war das vergangene Börsenjahr in den meisten Hinsichten sehr ungewöhnlich. Viele Tendenzen zeigten sich bereits im Frühjahr 2020, als das Wort Lockdown in beinahe jeden lebenden Wortschatz auf dieser Welt Eingang fand und die globale Produktion zum Stillstand kam. Einer tiefen, aber kurzen Rezession folgte 2021 ein dynamischer Wirtschaftsaufschwung. Wenig später breitete sich weltweit eine Inflation aus, auf die die Zentralbanken zunächst zögerlich reagierten. Ende November 2021 äußerte Jerome Powell, der Präsident der amerikanischen Zentralbank, bei einer Anhörung vor dem Kongress, die Zeit der Anleihenkäufe müsse schneller als gedacht zu einem Ende kommen. Was er zu diesem Zeitpunkt eher harmlos formulierte, erscheint im Nachhinein als eine Zeitenwende an den Finanzmärkten. Er warf damit das Regelbuch aus dem Fenster, an das sich die Investoren ein gutes Jahrzehnt gewöhnt und gehalten hatten. Das Zeitalter der Sakulären Stag­nation – das sich durch niedriges Wachstum, niedrige Inflationsraten und sehr billiges Geld ausgezeichnet hatte – war plötzlich vorbei und mit den kräftigsten Zinserhöhungen seit den 1980er-Jahren begann ein neues Kapitel (für das wir noch keine Überschrift haben).

„Der Einbruch war nicht besonders tief im historischen Vergleich, aber schmerzhaft, da kaum eine Anlagekategorie verschont blieb“

Dr. Georg von Wallwitz | Lead Portfoliomanager

Wie äußerte sich dieses neue Kapitel an den Märkten?

Nun, mit dem Anbruch der Zeitenwende begannen Anleihen und Aktien, zu fallen. Powells Andeutung, die Zinssätze müssten deutlich steigen und die Anleihenkäufe (das Sicherheitsnetz der Zentralbanken für die Märkte) zu einem Ende kommen, sorgte für Verkaufsdruck in beinahe jeder Ecke der Märkte. Der Einbruch war nicht besonders tief im historischen Vergleich, aber schmerzhaft, da kaum eine Anlagekategorie verschont blieb. Zinsen wirken in der Wirtschaft wie die Schwerkraft in der Physik. Jahrelang konnte ohne diese Schwerkraft investiert werden, ohne Rücksicht auf die Kosten des Geldes. Auch unprofitable Geschäftsmodelle konnten in diesem Umfeld gut überleben. Ein Jahr später müssen die Anleger immer noch lernen, mit der Realität höherer Zinsen und langfristig niedriger Renditen zurecht zu kommen. Das Leben unter den Bedingungen der Schwerkraft muss neu erlernt werden

 

Allein für sich ist das bereits keine einfache Aufgabe. Dazu kam ein unerwarteter geopolitischer Konflikt, der Implikationen am Markt hervorrief…

Richtig. Die andere Zeitenwende, die sich ebenfalls im Winter 2021/22 lange Zeit wenig beachtet anbahnte, war der heraufziehende Krieg Russlands gegen die Ukraine. Die Vorbereitungen liefen vor aller Augen – von der Nicht-Befüllung der deutschen Gasspeicher über die Ausschaltung unabhängiger Medien in Russland bis hin zur Truppenkonzentration an der Grenze – und wurden doch nur von Wenigen begriffen.

Der wirtschaftliche Effekt dieses Überfalls bestand für die westlichen Länder in einer dramatischen Energiepreiserhöhung, welche den ohnehin starken Anstieg der Inflation noch beschleunigte. Waren die Preissteigerungen 2021 noch durch die Nachholeffekte bei der Nachfrage und die gestörten Lieferketten nach dem Ende der Pandemie verursacht, kam nun noch eine Angebotsinflation hinzu, die von den Zentralbanken kaum beeinflussbar war.

 

Was bedeutete das für Geldanlagen?

Beides zusammen? Ein schwieriges Umfeld, und das für fast alle Geldanlagen. Langfristige US-Staatsanleihen verzeichneten den stärksten Rückgang seit 1788. Die klassische 60/40 Mischung in den Depots aus Aktien und Anleihen verzeichnete die schlechteste Performance seit 1932. Am Tiefpunkt dieses Jahres hatte der breite amerikanische S&P 500 Aktienindex eine Marktkapitalisierung von 11 Billionen US-Dollar verloren: Dies entspricht etwa der gesamten jährlichen Wirtschaftsleistung von Deutschland, Japan und Kanada zusammen. Allein die Technologie-Aktien haben einen Betrag verloren, der der Wirtschaftsleistung von Frankreich oder dem Vereinigten Königreich entspricht. Andererseits haben die in vielen Portfolios kaum vertretenen Öl-Aktien eine Renaissance erlebt, mit der kaum jemand gerechnet hatte.

Diese Kombination aus schwächelnden Aktien und Anleihen machte es für Anleger weitgehend unmöglich, sich zu verstecken. Eine positive Korrelation zwischen Aktien und Anleihen ist zwar nicht selten, aber normalerweise ist sie ein kurzfristiges Phänomen. In der zweiten Jahreshälfte beruhigte sich der Anstieg der Inflationsraten. Allerdings schienen der Anstieg der Energiepreise in Europa und die Null-COVID-Strategie in China die Wirtschaft abzuwürgen. Entsprechend war das zweite Halbjahr von kräftigen Auf- und Abwärtsbewegungen gekennzeichnet.

"Langfristige US-Staatsanleihen verzeichneten den stärksten Rückgang seit 1788. Die klassische 60/40 Mischung in den Depots aus Aktien und Anleihen verzeichnete die schlechteste Performance seit 1932."

Dr. Georg von Wallwitz

Welche Möglichkeiten blieben Anlegern in diesem schwierigen Marktumfeld? Und mit welchen Maßnahmen haben die Zentralbanken reagiert?

2022 bot wirklich kaum eine Möglichkeit, sich zu verstecken. In diesem von Unsicherheit und Inflation gekennzeichneten Umfeld enttäuschten Gold und Kryptowährungen viele Anleger – denn von diesen Anlageformen versprachen sich viele Investoren gerade in diesem Umfeld Stabilität. Aber Gold verlor an Attraktivität, seit die sicheren Häfen der Staatsanleihen wieder Zinsen abwarfen (was Gold bekanntlich nicht kann), und die Kryptowährungen entpuppten sich als ein gefährliches Pflaster, spätestens als viel Anlegergeld bei der Pleite von FTX, einer der großen Kryptobörsen, verloren ging.

Der Euro notierte zeitweilig unter der Parität zum US-Dollar. Die Europäische Zentralbank hatte in den Augen der Anleger deutlich weniger Möglichkeiten, die Inflation zu bekämpfen als ihr amerikanisches Pendant. Die Regierungen des Euro-Raums können sich höhere Zinsen kaum leisten und die Hauptursache der Inflation in Europa, die hohen Energiekosten, lassen sich durch höhere Zentralbankzinsen kaum beeinflussen. Also sahen die Märkte in Europa einen stärkeren Verfall der Kaufkraft voraus und werteten den US-Dollar auf.

 

Und wie lautet Ihr Resümee? Können Anleger nach diesem turbulenten Jahr wieder auf bessere Zeiten hoffen?

Wir glauben: Ja. Die Zinsen, an deren Abwesenheit sich die Anleger gewöhnt hatten, sind wieder da. Die Bewertungen sind in allen Anlageklassen deutlich zurückgekommen – und teilweise sogar billig. Nach dem Ende des Zeitalters der Stagnation hat damit das klassische 60/40-Portfolio so gute Aussichten wie in den letzten 10 Jahren nicht. In dieser Hinsicht hat uns dieses ungewöhnliche Jahr vielleicht auch nur in den Normalzustand (der Schwerkraft) zurückgebracht. Die Renaissance der Anleihen gepaart mit einer mittel- bis langfristig aussichtsreichen Aktienentwicklung lässt uns durchaus optimistisch in die Zukunft schauen.

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